Achtung, Achtung! Hier ist die Sendestelle Berlin im Vox-Haus auf Welle 400 Meter. Meine Damen und Herren, wir machen Ihnen davon Mitteilung, dass am heutigen Tage der Unterhaltungsrundfunkdienst mit Verbreitung von Musikvorführungen auf drahtlos-telefonischem Wege beginnt. Die Benutzung ist genehmigungspflichtig.
Diese verrauschten Worte – selbstredend noch weit entfernt vom heutigen technischen Standard – gehen am 29.10.1923 über den Äther und gelten vor fast genau 100 Jahren als Geburtsstunde des Radios für Privatpersonen in Deutschland (vgl. Hartung 2023: 12). Zeitungen und Banken genießen bereits drei Jahre zuvor das Privileg, via Rundfunk mit Nachrichten versorgt zu werden (vgl. ebd.).
Das Wunderbare am fantasiefördernden Medium Radio ist auch nach 100 Jahren: Sobald sich leidenschaftliche, eigenwillige, geistreiche und kreative Menschen mit Live-Moderationen, Live-Reportagen, Podcasts oder anderen Hörformaten (abseits des Mainstream-Formatradios anhand vorhersehbarer, vorgegebener Wordings) auf die akustische Spielwiese wagen, ist das für die Hörer:innen nicht nur hörbar, sondern trifft auch direkt ins Herz und/oder eröffnet neue Gedankenwelten. Der erste Eindruck OHNE die Augen kann sich als äußerst spannend erweisen, das fehlende Äußerliche verhindert (erstmal) eine oberflächliche Beurteilung. Da kann es schon mal sein, dass eine festgefahrene Meinung überdacht wird, weil uns Menschen in einem Feature von ihrem Schicksal erzählen und uns an ihrem Leben teilhaben lassen. Oder dass wir bei einem Fußballspiel mitfiebern als würden wir die einzelnen Spielszenen mit eigenen Augen sehen können, weil uns die Sportreporter:innen quasi mit ins Stadion nehmen. Nicht ohne Grund gibt es an den Bundesliga-Spieltagen immer noch Hörfunksendungen wie „Heute im Stadion“, die Generationen seit Jahrzehnten in der Badewanne oder beim Autofahren gebannt verfolgen. Diese Verbindung elektrisiert uns nach wie vor, so wie die zeitlos-historischen Worte (nicht allein aus sportlicher Perspektive, sondern insbesondere als Meilenstein in der deutschen Nachkriegszeit) von Herbert Zimmermann aus Bern vom WM-Finale 1954. Worte, die wir nur lesen müssen, um sie zu hören:
Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister!
Radio ist wie Theater: Wen das Fieber einmal erwischt hat, ist schwer heilbar. Wenn ich bei einer Theaterprobe merke, dass etwas nicht „stimmt“ und die Ursache nicht identifizieren kann, dann schließe ich die Augen und höre den Akteur:innen einfach zu. Sehr oft hat mir die isolierte akustische Wahrnehmung den Impuls für die entscheidende Veränderung gegeben.
Beim Hören entstehen Bilder durch Worte, Stimmen transportieren Stimmungen, unbekannte Menschen werden nahbar: Auf die nächsten 100 Jahre „Kino im Kopf“!
Literatur:
Hartung, Helmut (2023): 100 Jahre und kein bisschen alt. Politik & Kultur – Zeitung des Deutschen Kulturrates 11/2023. Regensburg: ConBrio.