„Die Behauptung, Kriterium des Brecht-Theaters ist die Politik, scheint richtig, aber nur bei ungenauer Betrachtung. Natürlich ist Brechts Theater politisches Theater. Mit seinen Lehrstücken greift Brecht bereits in den zwanziger Jahren in die Politik ein. […]
Nun aber jener zweite Irrtum: Das politische Thema ist das Kriterium des politischen Theaters. Natürlich gibt es bei Brecht Stücke, die ein politisches Thema haben […]. Natürlich ist dies politisches Theater. Aber nicht nur deshalb, weil ein politisches Thema darin vorkommt oder weil ein politischer Song gesungen wird, sondern weil die Stücke eine politische Haltung beziehen und politische Haltungen auslösen, die auf Veränderung der Dinge zielen, gleichgültig, ob sie politische oder scheinbar private sind. […]
[E]s kann ein Thema, wie zum Beispiel Die Kleinbürgerhochzeit, ein frühes Stück Brechts, eine sehr politische Haltung erzeugen. […] Ein Mann heiratet und legt Wert darauf, alle Möbel und Gegenstände selbst zu basteln. Er erreicht, daß am Hochzeitstag alles zusammenbricht. Dieses unpolitische Thema ist in Wirklichkeit ein sehr politisches, wenn man bedenkt, wie viele Arbeiter hier und auch bei uns oft den Blick für die großen sozialen Zusammenhänge verlieren und sich in die Familie, Kleingarten, zu ihrem Auto flüchten. […] Wenn sich […] jemand ins Privatleben zurückzieht und sogar seine eigenen Möbel baut, obwohl man sie besser kaufen kann, fällt er in mittelalterliche Manufaktur zurück. Hier ist die Kritik des ausgescherten Kleinbürgers die politische Haltung. In der Kleinbürgerhochzeit wird der Arbeiter als ein Kleinbürger denunziert, der seine Kräfte, die auch gesellschaftliche Kräfte sind, der Gesellschaft entzieht und so die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Veränderung seiner privaten bornierten Sphäre unmöglich macht. […]
Auch in heutigen Stücken kommt es auf die politische Haltung an. Sie umfaßt die individuelle, private, erotische Haltung, keinesfalls nur das politische Thema. Sie ist also nicht nur ein Stück-Thema, sondern ein gesellschaftliches Verhalten.“
Wekwerth (1986: 315 ff.)
Literatur:
Wekwerth, Manfred (1986): Brecht-Theater heute, in: Hecht, Werner (Hrsg.), Brechts Theorie des Theaters. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 309–334.