„Alle, die wir in dieser Kathedrale versammelt sind, machen uns keine Illusionen über die Realitäten der Politik. Wenn Macht, Reichtum und konkurrierende Interessen im Spiel sind; wenn Meinungen über die Vision für Amerika miteinander in Konflikt stehen; wenn es angesichts einer Vielfalt von Möglichkeiten kompromisslose Überzeugungen und sehr unterschiedliche Einschätzungen darüber gibt, welches Vorgehen das richtige ist, dann gibt es auch Gewinner und Verlierer, wenn Stimmen ausgezählt oder Entscheidungen getroffen werden, die über den Lauf der Politik und die Priorisierung von Ressourcen bestimmen. Es versteht sich von selbst, dass in einer Demokratie die persönlichen Hoffnungen und Träume jedes Einzelnen nicht in einer Legislaturperiode, im Lauf einer Präsidentschaft, ja nicht einmal innerhalb einer Generation erfüllt werden. Und die persönlichen Gebete jedes Einzelnen – für die von uns, die beten – werden nicht alle so erhört werden, wie wir es uns wünschen. Doch es gibt Menschen, für die der Verlust ihrer Hoffnungen und Träume weit mehr darstellt als eine politische Niederlage, nämlich den Verlust von Gleichheit, Würde und Existenzgrundlage.
Ist unter diesen Umständen wahre Einheit unter uns überhaupt möglich? Und warum eigentlich sollte sie uns am Herzen liegen?
Nun, ich hoffe, dass sie uns am Herzen liegt, denn die Kultur der Verachtung, die in unserem Land zur Normalität geworden ist, droht uns zu zerstören. Täglich werden wir alle bombardiert mit Nachrichten aus einem Komplex, den Soziologen neuerdings als ‚Empörungsindustrie‘ bezeichnen; diese wird zum Teil von Kräften befördert, denen eine Spaltung Amerikas sehr gelegen kommt. Verachtung befeuert unsere politischen Kampagnen und die Sozialen Medien, und davon profitieren viele. Doch es ist gefährlich, auf dieser Grundlage ein Land zu führen.
Ich bin ein gläubiger Mensch, und ich glaube, dass Einheit in diesem Land mit Gottes Hilfe möglich ist – nicht etwa vollkommene Einheit, denn wir sind unvollkommene Menschen und eine unvollkommene Gemeinschaft – , aber genügend Einheit, damit wir weiterhin an die Ideale der Vereinigten Staaten von Amerika glauben und an ihrer Verwirklichung arbeiten können. Nachzulesen sind diese Ideale in der Unabhängigkeitserklärung, die von der von Geburt an gegebenen Gleichheit und Würde des Menschen spricht.
Und wir tun gut daran, auf der Suche nach Einheit um Gottes Hilfe zu bitten, denn die brauchen wir – vorausgesetzt freilich, wir sind selbst bereit, die Fundamente zu pflegen, von denen Einheit abhängt. Jesus spricht im Gleichnis davon, ein Haus des Glaubens auf dem felsigen Grund seiner Lehre zu bauen und nicht etwa auf Sand; genauso muss das Fundament, das wir für die Einheit brauchen, stabil genug sein, damit sie den vielen Unwettern standhalten kann, denen sie ausgesetzt ist.
Doch welches sind die Fundamente der Einheit? Mit Bezug auf unsere geistlichen Traditionen und Texte sehe ich mindestens drei. Das erste Fundament der Einheit ist die Achtung der Würde, die jedem Menschen innewohnt, das heißt, und darin sind sich alle hier vertretenen Glaubensrichtungen einig, des Geburtsrechts aller Menschen als Kinder des einen Gottes. Im öffentlichen Diskurs bedeutet Achtung der Menschenwürde, dass man sich weigert, Andersdenkende zu verhöhnen, abzuwerten oder zu dämonisieren, und stattdessen ganz bewusst über unsere Differenzen hinweg respektvoll das Gespräch und wo immer möglich Übereinstimmung sucht. Wo Übereinstimmung nicht möglich ist, verlangt die Würde, dass wir unseren Überzeugungen treu bleiben, ohne die zu verachten, die an ihren eigenen Überzeugungen festhalten.
Ein zweites Fundament für Einheit ist Ehrlichkeit sowohl im privaten Gespräch als auch im öffentlichen Diskurs. Wenn wir zu Ehrlichkeit nicht bereit sind, ist es zwecklos, um Einheit zu bitten, weil unsere Taten dann der Bitte selbst zuwiderhandeln. Eine Zeitlang mögen wir dann den fälschlichen Eindruck von Einheit in einer Gruppe haben, nicht aber die stabile, umfassende Einheit, die wir brauchen, um uns den Herausforderungen, vor denen wir stehen, zu stellen. Offen gesagt, wir wissen nicht immer, wo die Wahrheit liegt, und heutzutage stellen sich der Wahrheit bestürzend viele Widerstände entgegen. Wenn wir aber wissen, was wahr ist, dann müssen wir diese Wahrheit auch aussprechen, selbst wenn – und besonders wenn – es uns Überwindung kostet.
Eine dritte Grundlage für Einheit ist Demut, die wir alle brauchen, weil wir alle fehlbare Menschen sind. Wir machen Fehler. Wir sagen und tun Dinge, die wir später bereuen. Wir haben unsere blinden Flecken und Vorurteile, und am gefährlichsten für uns selbst und andere sind wir vielleicht, wenn wir ohne einen Hauch von Zweifel überzeugt sind, dass wir absolut recht haben und jemand anderes absolut unrecht. Dann nämlich stehen wir ganz kurz davor, uns selbst als die Guten zu bezeichnen und die anderen als die Bösen. Denn wir sind alle Menschen und damit zum Guten genauso befähigt wie zum Bösen. Alexander Solschenizyn beobachtete messerscharf, dass ‚die Linie, die Gut und Böse trennt, nicht zwischen Staaten, nicht zwischen Klassen und nicht zwischen Parteien verläuft, sondern quer durch jedes Menschenherz‘. Je klarer wir uns das machen, desto mehr schaffen wir in uns einen Raum für Demut und Offenheit über unsere Differenzen hinweg; denn im Grunde sind wir einander ähnlicher, als wir es uns klarmachen, und wir brauchen einander.
Es ist vergleichsweise einfach, zu feierlichen Anlässen um Einheit zu bitten. Sehr viel schwieriger ist, sie zu verwirklichen, wenn wir in der Öffentlichkeit mit wirklichen Differenzen zu tun haben. Doch ohne Einheit bauen wir das Haus unserer Nation auf Sand. Mit einem Engagement für die Einheit, die Differenzen überbrückt und Spaltung überwindet, mit den stabilen Fundamenten von Würde, Ehrlichkeit und Demut, die solche Einheit erfordert, können wir in unseren Zeiten unseren Beitrag dazu leisten, dass die Ideale und der Traum Amerikas Wirklichkeit werden.
Lassen Sie mich, Herr Präsident, eine letzte Bitte formulieren. Millionen haben jüngst ihr Vertrauen auf Sie gesetzt. Wie Sie der Nation gestern sagten, haben Sie die schützende Hand eines liebenden Gottes über sich gespürt. Im Namen unserer Gottes bitte ich Sie um Erbarmen für die Menschen in unserem Land, die jetzt in Furcht leben. Es leben schwule, lesbische und transgeschlechtliche Kinder in republikanischen, demokratischen und unabhängigen Familien, und manchen von ihnen fürchten um ihr Leben. Und die Menschen, die unsere Ernten einholen und unsere Büros putzen, die in unseren Geflügelfarmen und in der fleischverarbeitenden Industrie arbeiten, die das Geschirr spülen, von dem wir im Restaurant gegessen haben, und im Krankenhaus die Nachtschicht übernehmen – sie sind vielleicht keine Staatsbürger oder besitzen nicht die richtigen Papiere, aber die große Mehrheit der Immigranten sind keine Kriminellen. Sie zahlen Steuern, sie sind gute Nachbarn. Sie sind gläubige Mitglieder unserer Kirchen, Moscheen und Synagogen, Gurdwaras und Tempel. Haben Sie Erbarmen, Herr Präsident, mit den Menschen in unseren Städten, deren Kinder fürchten, dass ihnen die Eltern genommen werden. Helfen Sie denen, die aus Kriegsgebieten und vor Verfolgung in ihren Heimatländern fliehen, um hier Mitgefühl und Aufnahme zu finden. Unser Gott lehrt uns, dass wir den Fremden Barmherzigkeit erweisen sollen, denn einst waren wir alle Fremde in diesem Land.
Möge Gott uns die Kraft und den Mut geben, die Würde jedes Menschen zu respektieren, in Liebe die Wahrheit zu sprechen und in Demut zu leben, miteinander und mit unserem Gott, zum Wohl aller Menschen in diesem Land und in aller Welt.“
(Budde 2025: 19 ff.)
21. Januar 2025
Washington National Cathedral,
Bischöfin Mariann Edgar Budde
Literatur:
Budde, Mariann Edgar (2025): Mutig sein. Frankfurt am Main: S. Fischer.