Oktober 3, 2023

Ermöglichungsdidaktik

Im Sinne der ursprünglichen Wortbedeutung des paidagogós, der die Kinder auf ihrem Schulweg begleitete und darüber hinaus oft deren Erziehung und Bildung übernahm, sind heute in der Informations- und Wissensgesellschaft Lernbegleiter:innen unter systemisch-konstruktivistischer Perspektive gefragt (vgl. Arnold/Gómez Tutor 2007; Arnold 2012). Das Subjekt rückt ins Zentrum, was den Abschied von der Idee einer direkt übertragbaren Wissensvermittlung von Lehrenden auf Lernende bedeutet. Dadurch soll es im Klassenzimmer aufregend knistern: Die Interpretation der Resonanz des Soziologen Hartmut Rosa (2016) zielt weniger auf Kompetenzanforderungen ab, als vielmehr auf eine Anverwandlung.

Die Betonung von Kompetenzen fördert die Beschäftigung mit dem Antwortschema richtig-falsch. In einer Resonanzbeziehung geht es aber mehr um den Prozess des Anverwandelns. Ich ringe mich mit einem Stoff ab, er bedeutet mir etwas. Dabei kann es sogar passieren, dass ich über einen Vers stolpere, der bei mir eine Gänsehaut auslöst.

(Rosa/Endres 2016: 79)

Glückt die Anverwandlung im komplexen Dreieck zwischen Lehrenden, Lernenden und dem Stoff entsteht ein „Resonanzraum“ (Rosa 2016: 408), andernfalls ergibt sich eine „Entfremdungszone“ (ebd.). Resonanz und Entfremdung verhalten sich entsprechend dichotom zueinander. Resonanzpädagogik beabsichtigt eine Anverwandlung, die körperlich erfahrbar ist (vgl. Rosa/Endres 2016: 79). Demzufolge ist eine einfache Aneignung selbst von überzeugenden, unvermeidbaren, kompetenzstiftenden Inhalten nicht möglich – erst das „Einverleiben“ entfaltet eine Kompetenzwirkung (vgl. Arnold 2012: 52).

Anfang der 1990er Jahre wurde das Programm der Ermöglichungsdidaktik skizziert (vgl. ebd.: 39). Lernen folgt hier einer inneren Logik, indem sich Menschen „zwar Informationen, Anregungen und Erklärungen zu eigen [machen], sie tun dies aber grundsätzlich zu ihren eigenen Bedingungen und im Rahmen ihrer bisweilen sehr spezifischen Möglichkeiten“ (ebd.).

(Quelle: Arnold/Gómez Tutor 2007: 178)

Bemerkenswert ist, dass „der Vermittlungsbegriff von seiner Tradition her immer auch im Dialogischen begründet war“ (Arnold 2012: 36, zitiert nach Welbers 2003). Im engeren Sinne ist Vermittlung erzeugungsdidaktisch geprägt, während im weiteren Sinne der ermöglichungsdidaktische Ansatz zur Geltung kommen kann, welcher für den Lehr-Lern-Prozess laut Erhard Meueler eine Nicht-Erzwingbarkeit bedeutet (vgl. Arnold 2012: 36). Hier lässt sich eine Parallele zum Terminus der Unverfügbarkeit nach dem Bildungsverständnis von Rosa (2021) erkennen. 

Literatur:

Arnold, Rolf (2012): Ich lerne, also bin ich. Eine systemisch-konstruktivistische Didaktik, 2. Aufl., Carl-Auer. 

Arnold, Rolf/Claudia Gómez Tutor (2007): Grundlinien einer Ermöglichungsdidaktik. Bildung ermöglichen – Vielfalt gestalten, ZIEL. 

Arnold, Rolf/Michael Schön (2019): Ermöglichungsdidaktik: Ein Lernbuch, hep.

Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Suhrkamp. 

Rosa, Hartmut (2021): Unverfügbarkeit, 2. Aufl., Suhrkamp. 

Rosa, Hartmut/Wolfgang Endres (2016): Resonanzpädagogik. Wenn es im Klassenzimmer knistert, 2. Aufl., Beltz. 

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