November 1, 2025

Staunen

„Das Gewohnte, das scheinbar Bekannte wird als etwas Ungewohntes, als etwas Neues, als etwas Anderes wahrnehmbar gemacht, indem ich es herauslöse und durch eine Montage in einen anderen Zusammenhang bringe und dadurch Unerwartetes aus dem scheinbar Bekannten schaffe. […] Dagegen will ich im eigentlichen Sinn ein Staunen auslösen. Bei Kindern findet man das oft. Es geht meistens irgendwann verloren, was eine Tragödie ist. Ich glaube, daß man das wieder lernen kann, das Staunen.“

(Veiel zit. n. Raddatz 2007: 251)

In der Bedeutung des Staunens für seine Arbeitsweise offenbart der Regisseur Andres Veiel eine große Nähe zu Brechts V-Effekt. „Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zunächst einfach, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen“ (GBA 22.1: 554). Darin erkennt Ulrike Hentschel den wirkungsästhetischen Gegenentwurf zu Furcht und Mitleid aus der aristotelischen Theaterform in Verbindung mit der Katharsis (vgl. Hentschel 2022: 6). Bertolt Brecht forderte nicht nur vom Publikum, sondern auch von seinen Akteur:innen auf der Bühne eine staunende Haltung gegenüber Stück und Figur (vgl. GBA 22.1: 601). Horst Rumpf appelliert, ähnlich wie Veiel, an den „erstaunten, befremdeten, verlangsamten Kinderblick“ (Rumpf 2010: 43), da andernfalls „der Menschengeist […] gar zu leicht von Informationen über Fertigwissen eingeschläfert wird“ (ebd.) und Bernhard Waldenfels plädiert unisono für die Erhaltung einer kindlichen „Naivität des Blickes“ (Waldenfels 2000: 180). Diese soll dafür sorgen, dass Kreativität die Rationalität ergänzt, um nicht „ins Schulmäßige oder ins bloß Wiederholende“ (ebd.) zu entgleiten. Für Lernprozesse kann dies der entscheidende Ausgangspunkt sein. „Lernen, das sich dem Neuen öffnet, hebt an mit einem Staunen, zu dem man sich nicht entschließen kann, das einem widerfährt, weil man von etwas wie von einem Blitz getroffen und unerwartet behelligt wird.“ (Meyer-Drawe 2013: 93) Ohne das Staunen kann das Widerfahrnis aber auch ins Leere laufen und Lernen verhindern. Durch das „Aufwachen aus dem Schlummer des Gewohnten“ (Meyer-Drawe 2008: 193) nimmt das Lernen als Erfahrung seinen Anfang, und zwar „wo und wenn das Vertraute seinen Dienst versagt und das Neue noch nicht zur Verfügung steht“ (ebd.: 15). Es beschreibt demnach eine „Schwelle zwischen nicht mehr und noch nicht“ (ebd.). Dieses Dazwischen – von Erika Fischer-Lichte als Schwellenerfahrung in Bezug auf ästhetische Erfahrungsprozesse bezeichnet – vollzieht sich in Irritationen, Kollision von Rahmen und Umstrukturierung von Selbst- und Weltwahrnehmung (vgl. Fischer-Lichte 2003: 160). In der Zwischensphäre von Geist und Leib bilden sich die Differenzen von Subjekt und Objekt, von Innen und Außen, von aktiv und passiv heraus (vgl. Meyer-Drawe 2006: 371). Für den pädagogischen Diskurs ist diese phänomenologische Betrachtung insofern bedeutsam, da sie das Ereignishafte, Kontingente sowie Unverfügbare hervorhebt (vgl. ebd.: 374). Mit anderen Worten: Lernprozesse sind selbst mit einem Output-Fetisch gemäß PISA & Co nicht bis ins Detail und für alle einheitlich vorhersehbar und damit auch nicht komplett planbar. So gerne wir im Leben auch die Kontrolle behalten würden.

Literatur:

Fischer-Lichte, Erika (2003): Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung. In: Küpper, Joachim/Menke, Christoph (Hrsg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung. Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 138–161. 

GBA = Hecht, Werner/Knopf, Jan/Mittenzwei, Werner/Müller, Klaus-Detlef (Hrsg.) (1989–2000): Bertolt Brecht Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 1–31, Frankfurt am Main: Suhrkamp. 

Hentschel, Ulrike (2022): Spielräume des Denkens. Episches Theater und Lehrstück bei Brecht. In: Schultheater (51), S. 4–7. 

Meyer-Drawe, Käte (2006): Pädagogik, Phänomenologische. In: Krüger, Heinz-Hermann/Grunert, Cathleen (Hrsg.): Wörterbuch Erziehungswissenschaft, 2. Auflage. Opladen & Farmington Hills: Barbara Budrich, S. 370–375. 

Meyer-Drawe, Käte (2008): Diskurse des Lernens. München: Wilhelm Fink. 

Meyer-Drawe, Käte (2013): Lernen braucht Lehren. In: Fauser, Peter/Beutel, Wolfgang/John, Jürgen (Hrsg.): Pädagogische Reform. Anspruch – Geschichte – Aktualität. Seelze: Klett Kallmeyer, S. 89–97.

Raddatz, Frank-M. (2007): Brecht frißt Brecht. Neues Episches Theater im 21. Jahrhundert. Berlin: Henschel.

Rumpf, Horst (2010): Was hätte Einstein gedacht, wenn er nicht Geige gespielt hätte? Gegen die Verkürzungen des etablierten Lernbegriffs. Weinheim, München: Beltz Juventa. 

Waldenfels, Bernhard (2000): Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 

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