November 2, 2024

Brecht-Fake – Teil 1

„Brecht war […] als der große Langweiler bekannt, weil die Regisseure in d[ies]er Askese Brecht-Theater sahen. Also rein vom Mittel her: Halbvorhang, nüchterne Spielweise, ohne Gefühl, problembeladen, agitatorisch. Das ist natürlich eine Farce. Das ist von denselben Leuten erfunden, die Brecht heute ebenso grundlos ablehnen, wie sie ihn grundlos bejubelten. Sie haben ihn einfach nicht gelesen. Natürlich können Mittel kein Kriterium für Brecht-Theater sein, da es ja gerade auf Veränderung, auch der Mittel, aus ist.

Die Mutter Courage hatte 1949 eine ganz bestimmte Funktion. Die leere Bühne war keine leere Bühne, weil das Bühnenbild vor der Tür stand. Es waren die Trümmer des zweiten Weltkrieges, ein Krieg, vor dem Brecht vergeblich gewarnt hatte. Alle, die ins Theater gingen, projizierten ihre Vorstellung vom verlorenen Krieg auf die Bühne. Die leere Bühne war für diese Menschen nicht leer, sondern gefüllt mit hautnahen Erfahrungen. Die Courage wurde in einem nüchternen Ton gespielt. Es war eine Ernüchterung, zu vergleichen mit der Entziehungskur eines Rauschgiftsüchtigen. Das Rauschgift war der Nazismus, der sich auf dem Theater in Räuschen äußerte, der nichts – selbst Hölderlin – ungeschoren ließ, um dort falsche Gefühle für den Faschismus und Nazismus zu wecken, mit welchen man in die Welt zog, die Länder zu erobern, weil man sich angeblich von aller Welt unterdrückt fühlte.

Hier den Mut zu haben, nüchtern zu spielen, den Krieg nicht vorzustellen als eine Sieges- oder Trauerfanfare, sondern aufzurechnen, was er gekostet hat; zu zeigen, daß Leute, die viel über die Größe des Kriegs reden und nicht teilnehmen, die da verkünden: ‚Deutschland, Deutschland über alles‘, selbst Geschäftsleute waren – das alles löste nicht etwa Gleichmut bei der Bevölkerung aus, sondern Zorn. […] Gerade die Nüchternheit entfachte die Leidenschaft des Publikums. […]

ADN-ZB/Rehfeld 27.9.78 Berlin: XXII.Berliner Festtage
Letzte Regiehinweise gibt der Intendant des Berliner Ensembles, Manfred Wekwerth (r.), der Titeldarstellerin Gisela May in der Neuinzenierung von Brechts "Mutter Courage und ihre Kinder ".
Das Theater am Schiffbauerdamm bringt dieses Schauspiel am 3.10.78 als Beitrag zu den XXII. Berliner Festtagen heraus.
Rechte: Bundesarchiv, Bild 183-T0927-019 / Katja Rehfeld / CC-BY-SA 3.0

Brechts Theater ist also nicht von den Stil-Mitteln her zu fassen. Er selbst hat seine Mittel ständig verändert und erneuert. Eine Aufführung von Mutter Courage und des Kaukasischen Kreidekreises sind von den Stil-Mitteln her völlig verschieden. […] Er nannte Regieführen einmal ‚Sinngebung‘: Der Sinn eines Stückes sollte so sinnvoll wie möglich und so sinnlich wie möglich gezeigt werden. Wenn man die Mittel Brechts, mit denen er selbst einmal andere Mittel veränderte, ständig neu wiederholt, verliert man das Grundanliegen Brechts, das Publikum in eine staunende, kritische Haltung zu versetzen: Warum ist das so? Muß denn das immer so sein? Warum ist das nicht anders?“

Wekwerth (1986: 312 ff.)

Literatur:

Wekwerth, Manfred (1986): Brecht-Theater heute, in: Hecht, Werner (Hrsg.), Brechts Theorie des Theaters. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 309–334.

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