Dezember 18, 2022

Muße

„Muße bietet menschlicher Freiheit die Gelegenheit, sich zu verwirklichen. Praktiken der Muße sind letztlich Vollzugsformen von Freiheit.“

(Gimmel & Keiling, 2016, S. 61)

Als „selbstbestimmtes und selbstverwirklichendes Tun“ (ebd., S. 52) umschreiben Gimmel und Keiling die Muße. Zugleich verweisen sie auf die spezifischen kulturellen Ordnungen und historischen Bedingungen des Begriffs (vgl. ebd., S. 3), die bei der Einordnung zu berücksichtigen sind. Wobei es dabei weniger eine Rolle spielt, ob sich symbolisch der Weihnachtsmann am Strand mit Muße einem Buch widmet oder das Christkind oder…

Was passiert eigentlich bei uns selbst? Wie steht es um meine persönliche Muße? So mancher Zeitgenosse denkt dabei spontan an alles außer Arbeit. Darunter fällt selbstbestimmtes(?) Freizeitverhalten als Gegengewicht in der vielbeschworenen Work-Life-Balance. Allerdings ist arbeitsfreie Zeit nicht automatisch mit Muße gleichzusetzen (vgl. ebd.). Muße rekurriert als kontemplative Welt- und Weitsicht im antiken Verständnis auf Ruhe und Verzögerung – ganz im Sinne von Rousseau. Seine erstaunliche Erziehungsregel aus dem 18. Jahrhundert lautet „Zeit verlieren“ (Rousseau, 1998, S. 72). Diese Ansicht war und ist radikal unkonventionell und stellt sich bis heute gegen ein effizientes und effektives Bildungssystem in einer insgesamt beschleunigten Welt (Rosa, 2016). Als Prämisse für Bildungsprozesse hat Muße mit dem süßen – oder auch trägen – Nichtstun jedoch wenig gemein.

„Sie dient nicht zur Zerstreuung, sondern zur Sammlung. Das Verweilen setzt ein Versammeln der Sinne voraus.“

(Han, 2009, S. 89)

Die sinnliche Wahrnehmung (griechisch aisthesis) beschreibt den Bereich der ästhetischen Bildung. Die „kostet“ allerdings Zeit und hat daher einen schweren Stand im durchgetakteten Unterricht. Das Verweilen wird verlernt – paradoxerweise ausgerechnet an unseren Schulen und Universitäten, den „Zeitdisziplinaranstalten“ und „Lernfabriken“ (Dörpinghaus, 2009, S. 45). Die ursprüngliche Bedeutung der altgriechischen Bezeichnung scholé war übrigens: Muße.

Künstler:innen begeben sich vielfach auf die aktive Suche nach Muße, um kreativ wirken zu können. Auf diesem Weg finden auch Begegnungen mit Bildung statt, wie Thomas Mann beschreibt:

„Bildung wird nicht in stumpfer Fron und Plackerei gewonnen, sondern ist ein Geschenk der Freiheit und des äußeren Müßiggangs; man erringt sie nicht, man atmet sie ein.“

(Mann, 1990, S. 339)

Diese Freiheit kann sich allerdings nicht jede:r leisten.

Literatur:

Dörpinghaus, A. (2009). Bildung. Plädoyer wider die Verdummung, in: Deutscher Hochschulverband (Hrsg.), Glanzlichter der Wissenschaft. Ein Almanach. Lucius & Lucius.

Gimmel, J. & Keiling, T. (2016). Konzepte der Muße. Mohr Siebeck.

Han, B.-C. (2009). Duft der Zeit. Ein philosophischer Essay zur Kunst des Verweilens. transcript.

Mann, T. (1990). Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, in: Gesammelte Werke (Bd. 7, S. 265–661). Fischer.

Rosa, H. (2016). Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Suhrkamp.

Rousseau, J.-J. (1998). Emil oder Über die Erziehung (13. Aufl., in neuer deutscher Fassung besorgt von Ludwig Schmidts). Schöningh.

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