„Wir erleben gegenwärtig einen Produktions- und Wachstumsrausch, der wie ein Todesrausch anmutet. Er täuscht eine Vitalität vor, die das Nahen einer tödlichen Katastrophe verdeckt. Die Produktion gleicht immer mehr einer Destruktion. Die Selbstentfremdung der Menschheit hat womöglich jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuss erleben lässt. Was Walter Benjamin damals über den Faschismus gesagt hat, gilt heute für den Kapitalismus.“
(Han, 2022, S. 7)
Der Vergleich von Faschismus und Kapitalismus mag unangemessen und übertrieben erscheinen. Möglicherweise ist er ein wohlkalkulierter Tabubruch des Philosophen Byung-Chul Han. Selbstkritisch sei angemerkt, dass die Textpassage in diesen Blogbeitrag aufgenommen wurde – verbunden mit der Frage, ob der Vergleich über das mögliche Tabu hinausgeht. Die selbstzerstörerische Kraft ist sowohl dem Faschismus als auch dem Kapitalismus immanent: Am Anfang steht oft die scheinbar einfache Lösung, ein Versprechen, welches mir einen vermeintlichen Vorteil verschafft – und ohne ein Korrektiv in die kollektive Katastrophe führt. Denn das Leben hält eben keine banalen Antworten für uns parat. Die Welt ist bezaubernd und komplex, das Zusammenleben berührend und anstrengend. Diese Ambivalenz und Ambiguität gestaltet sich als täglicher Balanceakt zwischen Aufwachen und Einschlafen. Und „nebenbei“ soll wie selbstverständlich noch der persönliche Beitrag zum Fortschritt geleistet werden.
„Im Jargon der Märkte sind Heil und Fortschritt schließlich eines: permanentes Wachstum. Die Ökonomie wird zu dem, was sie von Beginn an zu sein vorgibt: Religion.“
(Dörpinghaus & Uphoff, 2012, S. 69)
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wird als ehrfürchtiger Maßstab der Wirtschaft wie eine Monstranz verehrt und präsentiert. Regelmäßig wollen wir daran Wohlstand und Fortschritt ablesen – ein wenig aussagekräftiger Durchschnittswert für das Individuum. Im unvollständigen Abbild des BIP bleibt die unbezahlte Arbeit ebenso unberücksichtigt wie die Ökosystemdienstleistung. Und im Jubel von immer neuen BIP-Rekorden geht zumeist unter, dass wir mit dem Neukauf von Produkten (Smartphones, Kühlschränken, Autos, etc.) in immer kürzeren Zeitspannen zwar den Produktionsrausch befeuern, aber eben auch rücksichtslos Ressourcen verschwenden und erheblich zur Klimakrise sowie Migration beitragen. Denn die „Märkte leben vom Neuen, vom Müll des Alten“ (vgl. ebd., S. 74). Die Perversion hat bereits ihren Höhepunkt erreicht, indem unter anderem Kleidung als original verpackte Neuware vernichtet wird. Argumentiert wird damit, dass die Beseitigung billiger sei als die Lagerung. Eine wahrhaft billige und kurzsichtige Perspektive.
Als Alternative zum BIP bringt Julian Nida-Rümelin drei Fortschrittsindikatoren ins Spiel: Die Autorschaft des eigenen Lebens, Gemeinschaftszugehörigkeit sowie Vielfalt (vgl. Nida-Rümelin & Zierer, 2015, S. 109). Vielfalt gerät allerdings in Gefahr, wenn z. B. der humanistische Bildungsgedanke geopfert wird.
„Ich sehe Parallelen zwischen einer Post-Wachstumsökonomie und einer Post-PISA-Bildung, die genauso denken müsste. PISA versucht auch zu globalisieren, nämlich zu dem, was ich bei allen vergleichbar messen kann, und dabei geht die Vielfalt sozusagen verloren.“
(Nida-Rümelin & Zierer, 2015, S. 108, zit. n. Zierer)
Unter anderem mit PISA (Programme for International Student Assessment) werden standardisierte und vergleichbare Inhalte angestrebt, indem die Leistungen in den Bereichen Mathematik, Naturwissenschaften oder Leseverständnis unter 15-jährigen Schüler:innen getestet werden. Die internationale Vergleichbarkeit von enorm unterschiedlichen Bildungssystemen und Kulturen gilt als umstritten. Fraglich ist ebenso, wo das demokratisch-legitimierte Bildungsmandat für die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) als PISA-Koordinatorin liegt – immerhin übt sie einen erheblichen Einfluss auf diesem Gebiet aus! Eine scheinbar zeitgemäße Bildung droht zur Hure der Volkswirtschaft zu werden, wie es Friedrich Nietzsche bereits 1872 in seinen Baseler Vorträgen formuliert (vgl. Dörpinghaus & Uphoff, 2012, S. 121) – das entspricht einem Unterricht, der heute nach dem Prinzip „teaching to the test“ einseitig outputorientiert umgesetzt wird.
Wie kann sich Bildung weiterentwickeln ohne ihre Wurzeln zu verlieren? Hier lohnt sich ein Blick auf psychologische Strukturen. Nach Robert Kegan (1986) gleicht die menschliche Entwicklung einem fortwährenden Pendeln zwischen Unabhängigkeit (linke Hälfte) und Zugehörigkeit (rechte Hälfte):
Das Nullstadium [0] gilt als die Phase der Einverleibung. Dem reflexgesteuerten Säugling ist es noch nicht möglich, eine Abgrenzung zwischen sich selbst und anderen vorzunehmen. In der folgenden Stufe [1] lösen Impulse die Reflexe beim Kleinkind ab. Die auftretenden Wutanfälle resultieren dabei oft aus widersprüchlichen Impulsen und der Erfahrung, diese nicht gleichzeitig bewältigen zu können. Das impulsive Selbst mit dem ursprünglichen Egozentrismus bedarf einer vertrauensvollen, schützenden Umgebung (Zugehörigkeit). Das Kind [2] kann seine Impulse zunehmend kontrollieren, Bedürfnisse werden entdeckt und unterschiedliche Rollen ausprobiert. Die Suche nach Identität führt zum ersten Streben nach Unabhängigkeit, indem klar zwischen der eigenen Person und anderen unterschieden wird. Der Jugendliche [3] kann nunmehr verschiedene Bedürfnisperspektiven koordinieren – für sich und auch in zwischenmenschlichen Beziehungen. Gefühle und Vorstellungen werden mit anderen geteilt. Der Fokus der Jugendlichen wechselt von der Familie auf die peer-group. Werte und Normen von Gleichaltrigen nehmen dann meist eine zentrale Stellung ein, ein starkes Zugehörigkeitsgefühl zu dieser Gruppe entwickelt sich. In der vierten Stufe des institutionellen Gleichgewichts [4] wird in der Auseinandersetzung mit Institutionen die eigene unverwechselbare Identität ausgebildet. Junge Erwachsene lösen sich aus (einigen) bestehenden Bindungen und streben ein eigenständiges, unabhängiges Leben an. Die letzte Stufe [5] stellt für Kegan das potenzielle überindividuelle Entwicklungsziel dar. Dabei ändert sich das Subjekt-Objekt-Verhältnis nochmal entscheidend. Das Subjekt gewinnt Abstand durch den Abschied von institutionsbedingten Pflichten, Arbeitsrollen oder Karrieren und kann sich dadurch in der Rückschau reflexiv verhalten. Der Eintritt in eine neue Phase beinhaltet immer auch Abschied und Trennung. In den teils schmerzhaften Übergängen liegt das Wachstumspotenzial.
Vor diesem Hintergrund könnte menschliches Wachstum in der Vorstellung einer spiralförmigen Entwicklung auch ein Vorbild für andere Bereiche sein: Statt der – scheinbar alternativlosen – unaufhaltsam konstant-steigenden Linie als Illusion des immerwährenden Wachstums, wäre dann immer wieder ein bewusstes Innehalten, ein reflektierendes Verdauen, ein tiefergehendes Verständnis möglich. Die kurzsichtige, unersättliche Lebensweise „immer mehr“ hat nicht nur Grenzen, sondern auch ihren Preis. Ein Preis, den wir nachfolgenden Generationen brutal aufzwängen.
Literatur:
Dörpinghaus, A. & Uphoff, I. K. (2012). Die Abschaffung der Zeit. Wie man Bildung erfolgreich verhindert. WBG.
Han, B.-C. (2022). Kapitalismus und Todestrieb. Essays und Gespräche (3. Aufl.). Matthes & Seitz.
Kegan, R. (1986). Die Entwicklungsstufen des Selbst. Fortschritte und Krisen im menschlichen Leben. Kindt.
Nida-Rümelin, J. & Zierer, K. (2015). Auf dem Weg in eine neue deutsche Bildungskatastrophe: Zwölf unangenehme Wahrheiten. Herder.