Lieber Immanuel, herzlichen Glückwunsch!
In diesem Monat feiern wir deinen 300. Geburtstag. Was hast du uns da alles beschert!?
Immer wieder gerne erinnere ich mich an deine weisen Worte für unser Zusammenleben:
„Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“
(Kant 1788)
Etwas sperrig formuliert, inhaltlich aber so was von auf den Punkt! Allein der Gedanke an einen egozentrischen Habitus wäre damit ad absurdum geführt. Der Konjunktiv ist hier angebracht: Manchen Menschen scheinen deine Schriften noch gänzlich fremd zu sein.
Was soll ich tun?
Mit diesem kategorischen Imperativ als einer Form der moralischen Selbstregulation richtest du den Fokus auf die allgemeine, für unser Zusammenleben zentrale Frage: Was soll ich tun? Durch das Handlungsgesetz des erwähnten Prinzips a priori wird die moralische Pflicht nach deinem Dafürhalten sogar objektiv ersichtlich.
Außerdem stellst du weitere Fragen an uns:
Was kann ich wissen?
Was darf ich hoffen?
Was ist der Mensch?
Zur Erkenntnis insbesondere dieser Fragen und auch im Allgemeinen kommen wir nach deiner Einschätzung nicht ausschließlich über die Vernunft – ein Begriff, mit dem deine Person immer noch vielfach assoziiert wird – sondern erst zusammen mit unseren Sinneseindrücken. Aber leider bleibt von dir nicht nur der Eindruck des großen Denkers zurück…
Sehr geehrter Herr Kant, waren Sie wirklich ein Rassist? Als großer Aufklärer sogar der Begründer des europäischen Rassismus?
Die Ideen der Menschenwürde und des Weltbürgertums in Ihrer Schrift „Zum ewigen Frieden“ (1795) kann ich so gar nicht mit Ihren früheren, abstoßenden Texten zu Rassen und dem Verweis auf Klassenunterschiede in Bezug auf die Hautfarbe in Einklang bringen. Offensichtlich verlassen Sie damit den Heldenstatus des berühmten Philosophen und werden als Mensch Ihrer Zeit angreifbar – oder wie Daniel Kehlmann meint „als ambivalentes Wesen, das einerseits freiheitsbegabt ist und andererseits eine miserable Kreatur“ (Schweers 2024: 26). So ambivalent wie wir eben alle. Fairerweise dürfen wir Ihnen zugutehalten, dass sich selbst die klügsten Köpfe verirren und ändern können. In Ihren späteren Texten betonen Sie die Gleichheit der Menschen als eine Art große globale Familie. Das gehört eben auch zum ganzen, diskussionswürdigen Bild Ihres Lebens. Denn im Zweifel hilft: Mehr von Ihnen zu lesen als allein die höchst irritierenden Ausschnitte, die in isolierter Form in das verzweifelte Weltbild von aktuellen Rassisten zu passen scheinen, für die Sie als bekannte Figur aus der Geschichte unreflektiert herhalten sollen. Und das bringt uns wieder auf Ihre Empfehlung:
„Sapere aude!
Habe Muth (sic!), dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“
(Kant 1784)
Diesen sowie einige bedeutende Gedanken mehr hast du mit unbegrenzter Haltbarkeit an uns alle adressiert. Manch eine:r verweigert die Annahme, andere scheinen unbekannt verzogen. Viele aber sind vor allem für deinen kategorischen Imperativ noch heute empfänglich. Und das kann uns allen immer noch ein moralischer (weniger ein moralisierender) und wertvoller Kompass sein.
In kritischer Wertschätzung,
Roman
Literatur:
Kant, Immanuel (1784): Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Berlinische Monatsschrift (2), S. 481–494.
Kant, Immanuel (1788/2021): Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg: Nikol.
Kant, Immanuel (1795): Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Königsberg: Friedrich Nicolovius.
Schweers, Paula (2024): Vordenker der Vernunft, in: ARTE Magazin (4), S. 24–27.
Fotos: gemeinfrei