April 17, 2022

Lernen: lebenslang, lebenslänglich oder lebensbegleitend?

„Lernen gibt es nur im Plural und in der Vielfalt, denn was unter Lernen zu verstehen ist, hängt davon ab, was und wie gelernt wird und von wem.“

(Dörpinghaus, 2018, S. 116)

Gerade frage ich mich, wann ich bisher gelernt habe. Vor Prüfungen, klar. Fast immer war es vorgegebener Lernstoff der zu einem bestimmten Termin in unterschiedlichen Formen abgefragt wurde. Und zwischen den Prüfungen? Auch da. Oft war es ausdauerndes Üben oder eine überraschende Erfahrung mit der Erkenntnis: So könnte es gelingen. Andernfalls führt mich ein Holzweg immer wieder mal in die Sackgasse – Endstation, bitte aussteigen, umsteigen, zurück auf Los.

Noch bedeutender ist vermutlich die Frage, weshalb der Mensch lernt. Worin besteht der persönliche Antrieb zum Lernen: In der Beseitigung von Defiziten? Der Erfüllung von Vorgaben aus der Schul- und Arbeitswelt? Oder an der Freude am Entdecken? Dahinter offenbart sich die grundsätzliche Haltung einer mündigen oder eben unmündigen Idee des Lernens.

Lernen wir auch ohne es bewusst wahrzunehmen? Vielleicht sogar ständig? Dörpinghaus führt das lebenslange Lernen auf den beschleunigten Wandel seit dem 19. Jahrhundert zurück sowie auf die Sorge, mit der ständigen Temposteigerung nicht mithalten zu können (vgl. Dörpinghaus, 2018, S. 114). In den 1960er und 70er Jahren sollte das lebenslange Lernen etabliert werden, vor allem um wirtschaftlich konkurrenzfähig zu bleiben (ebd., S. 113). Der flexible Mensch wurde zum Unternehmer seiner selbst (ebd.). Kann sich noch jemand an das Unwort des Jahres 2002 erinnern? Es war der Begriff Ich-AG.

„Die Selbstunternehmerinnen und Selbstunternehmer […] besitzen die Kompetenz, sich beständig weitere Kompetenzen anzueignen, mit ihren eigenen Potenzialen zu kalkulieren und sich wie ein ‚gut funktionierendes‘ Unternehmen zu verwalten. Auf diese Art bestimmt schon Deleuze den Imperativ zum lebenslangen Lernen: nicht als Erweiterung der eigenen Kenntnisse, sondern als nie enden wollende Flexibilisierung, die per definitionem nicht zur Ruhe kommen darf.“

(Schäfer, 2016, S. 13f.)

Für Dohmen (1996) stand lebenslanges Lernen vielfach in starkem Kontrast zum traditionellen Bild von Unterricht und Berufsausbildung, was meistens den antinomischen Lehr-/Lernstrukturen zugeschrieben wird (vgl. Terhart, 2011, S. 206). Antinomien bedeuten, dass sich bestimmte Anforderungen widersprechen (vgl. Hörnlein, 2020, S. 20) und somit nicht vereinbar sind.

„Dieses ’natürliche‘ Lernen […] ist stärker auf ganzheitlich-komplexe Lebensprobleme bezogen aber damit auch irrtumsanfälliger als ein von professionellen Wissensvermittlern gezielt vorgeplantes und eingegrenztes Lernen.“

(Dohmen, 1996, S. 33)

Das vorab festgelegte Etappenziel soll z. B. einerseits möglichst effizient auf direktem Weg erreicht werden. Inwiefern sich andererseits auf diese Weise eine individuelle Beteiligung der Lernenden einstellt, um die Antworten intrinsisch motiviert ausfindig zu machen, scheint zumindest fraglich.

Das Lernen in seiner „lebensumspannenden Dimension“ (Hof, 2009, S. 44) umfasst sowohl formales, non-formales wie auch informelles Lernen. Die Idee des lebenslangen Lernens wird durch vielfältige bildungspolitische Konzepte unterschiedlich ausgelegt und umgesetzt (vgl. ebd., S. 52). Während sich lebenslanges Lernen schwerpunktmäßig auf Entwicklungschancen in sämtlichen Lebensphasen als flexibles Bildungsangebot bezieht (vgl. ebd., S. 36), konnotiert das lebenslängliche Lernen eine Art Zwangsverordnung (vgl. Heufers, 2015, S. 36) – bedingt durch die Anpassungsanforderungen moderner Kapitalismussysteme wird daraus ein „neo-liberales Bildungs(miss)verständnis“ (Schmidt-Hertha, 2020, S. 53). Vorrangig benachteiligte Menschen sollen Zugang zu lebensbegleitenden Lernangeboten (vgl. Hof, 2009, S. 46) bekommen, welche die Beschäftigungsfähigkeit, auch Employability genannt, zugunsten der Individuen wie auch der Volkswirtschaft erhalten soll (vgl. ebd., S. 38). Kritisch anzumerken ist in diesem Zusammenhang die Entwicklung, die Eigenverantwortung in einer dynamischen, global-vernetzten Arbeitswelt vermehrt auf die einzelnen Beschäftigten zu übertragen und ein berufliches Scheitern („zu unflexibel“, „zu wenig engagiert“, „nicht mobil genug“) als persönliches Schicksal „auszulagern“. Inwiefern politische Rahmenbedingungen dazu beitragen, darf aufmerksam und kritisch verfolgt werden (siehe Lissabon-Strategie oder Europa 2020).

Literatur:

Dohmen, G. (1996). Das lebenslange Lernen. Leitlinien einer modernen Bildungspolitik. Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie.

Dörpinghaus, A. (2018). Abschied vom Lebenslangen Lernen – Gedanken über ein komplexes anthropologisches Phänomen. In F. Krückel, M. Schüll & I. K. Uphoff (Hrsg.), Basistexte Pädagogik (S. 113–120). WBG.

Heufers, P. (2015). Biographien gestalten durch lebenslange Lernprozesse. Rekonstruktionen berufsbiographischer Orientierungsmuster. Springer VS.

Hof, C. (2009). Lebenslanges Lernen. Eine Einführung. Kohlhammer.

Hörnlein, M. (2020). Professionalisierungsprozesse von Lehrerinnen und Lehrern. Biographische Arbeit als Schlüsselqualifikation. Springer VS.

Schäfer, M. J. (2016). Das Theater der Erziehung. Goethes »pädagogische Provinz« und die Vorgeschichten der Theatralisierung von Bildung. transcript.

Schmidt-Hertha, B. (2020). Lebenslanges Lernen im Beruf als Gegenstand der Lehrerinnen- und Lehrerbildung. In C. Cramer, J. König, M. Rothland & S. Blömeke (Hrsg.), Handbuch Lehrerinnen- und Lehrerbildung (S. 53­­­­–58). Julius Klinkhardt.

Terhart, E. (2011): Lehrerberuf und Professionalität. Gewandeltes Begriffsverständnis – neue Herausforderungen. Zeitschrift für Pädagogik, 57(1), 202–224.

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