Über das Pilgern schreiben Edith und Victor Turner: “For the majority, pilgrimage was the great liminal experience of the religious life“ (Turner/Turner 1978: 6 f.). Pilgern bedeutet aber nicht zwangsläufig, auf religiösen Spuren zu wandeln. Der transformatorische Prozess geht für die Wanderer – als kirchenlateinische Übersetzung von pelegrinus (vgl. Frey 2002: 31) – in erster Linie mit einer inneren und äußeren Reise einher (vgl. ebd.: 41). Des Weiteren stellen sich in bestimmten Lebensphasen Fragen nach der eigenen Identität, nach möglicher Veränderung, nach Klarheit in ambivalenten Situationen. Die Reflexion kreist um das eigene Ich und nicht zuletzt durch eine Pilgerreise erhofft man sich Antworten auf diese sinnstiftenden Fragen.
Kerkeling-Effekt
Der sogenannte Kerkeling-Effekt löste vor rund 20 Jahren einen regelrechten Run auf den Jakobsweg aus – was auch damit zu tun haben könnte, dass das mit mehr als 100 Wochen über eine lange Strecke meistverkaufte Sachbuch in Europa (vgl. Kurrat 2018: 38), Ich bin dann mal weg von Hape Kerkeling (2009, 1. Auflage 2006), drei Dimensionen vereint: Den spirituell-religiösen, den sozial-geselligen wie auch den selbstfürsorglich-egoistischen Aspekt des Pilgerns. Der Kerkeling-Effekt ist vor allem bei deutschen Santiago-Pilger:innen mit einem deutlichen Anstieg in den Jahren von 2006 auf 2007 erkennbar. Und die Zahlen steigen allgemein, auch im internationalen Vergleich, von Jahr zu Jahr. Zu verzeichnen sind vor allem große Sprünge in den „Heiligen Jahren“, wenn der Festtag des heiligen Jakobus am 25. Juli ein Sonntag ist (vgl. Heiser 2018: 83). Er gilt u. a. als Schutzpatron der Pilgernden. Eine Definition des Pilgerns gehört zu den zentralen Studienergebnissen von Sozialwissenschaftler Christian Kurrat:
“Pilgern ist in typischen biographischen Situationen und unabhängig von der religiösen Orientierung ein von vielen Menschen freiwillig gewähltes Handlungsformat, das typischen Handlungslogiken folgt.”
Kurrat (2015: 10)
Communitas, Übergangsriten und der Draht nach oben
Die Pilgernden bilden auf dem gemeinsamen Weg eine Form der Vergemeinschaftung, die synchrone Communitas. Sie unterscheidet sich von der diachronen Communitas, welche die Beziehung zu Pilger:innen aus der Vergangenheit und der Zukunft beschreibt (vgl. Heiser 2018: 77 f.). Vor allem Rituale geben Orientierung, fördern den Zusammenhalt und sorgen für die Integration in eine Gemeinschaft (vgl. Lienau 2009: 106 f.). Auf eine vorgeschriebene Ordnung deutet der lateinische Begriff ritus etymologisch hin und weiterführend beschreibt das griechische arthmos eine Verbindung zwischen den Göttern und den Menschen (vgl. Gebauer/Wulf 1998: 128). Der zentrale Bezug zur Schöpfung erklärt die Begrenzung auf eine exklusive religionswissenschaftliche Perspektive (vgl. ebd.: 129). Allerdings nur vermeintlich exklusiv, denn Turner zeichnet demgegenüber den Weg vom Ritual zum Theater nach, wenn er im sozialen Drama Eröffnungsmotive, Übergangsmotive und Schlussmotive erkennt (vgl. Turner 2009: 114). Er führt diese drei Phasen auf Arnold van Genneps Übergangsriten zurück: Trennung, Schwelle und Angliederung (vgl. ebd.: 34), was Detlef Lienau analog dazu als Aufbrechen zum Pilgern und Loslösen vom Alltag, Transformation und Reintegration in den (neuen) Alltag bezeichnet (vgl. Lienau 2009: 106). Als zweite – liminale – Phase ist somit auch eine anstrengende Pilgerfahrt zu verstehen, um letztendlich am Pilgerziel anzukommen: dem „heiligen Schrein“ (Turner 2009: 37), welchen Turner und Turner bereits 1978 beschreiben: “One motive for going on pilgrimage is the feeling that a saint’s shrine has a sort of ‘hot line’ to the Almighty“ (Turner/Turner 1978: 16). Weniger als klares Motiv, eher als eine tief bewegende Erfahrung auf seinem Camino bestätigt Hape Kerkeling nach einem Wechselbad der Gefühle die persönliche Verbindung zu Gott: “Durch alle Emotionsfrequenzen habe ich mich langsam auf die eine Frequenz eingetunt und hatte einen großartigen Empfang“ (Kerkeling 2009: 241).
Pilgertypen
Am Ende der Pilgerreise, vor dem Empfang der Urkunde in Santiago de Compostela, geben die Menschen ihre Motivation für die Pilgerschaft an. Das Hauptmotiv kann durchaus ein „religiöses Fundament“ (Frey 2002: 13) haben. Die Pilgerforschung kann mittlerweile auf differenziertere Antworten zurückgreifen: „Erfahrungen des Transzendenten, Tourismus, Abenteuerlust, Nostalgie, Freiwerden von Sorgen, esoterische Beweggründe“ (vgl. ebd.) und nicht zuletzt „Antworten auf Lebensfragen“ (vgl. ebd.: 190). Was ist der Sinn des Lebens? Was gibt mir persönlich einen Sinn in meinem Leben? Was sind meine (Lebens-)Themen?
Kurrat (2015, 2018) identifiziert fünf Haupttypen des Pilgerns. Dafür verwendet er die empirische Methode der Typenbildung, die unter anderen auf Alfred Schütz und Udo Kuckartz zurückgeht.
Abb.: Pilger-Typenbildung (Kurrat 2018: 39)
Diese Abbildung zeigt, dass sich Menschen in typischen Lebenssituationen auf den Pilgerweg machen. Pilgernde, die in einer Krise stecken oder im fortgeschrittenen (Renten-)Alter eine Bilanz ziehen und zurückblicken, sind grundsätzlich auf ihre Lebensgeschichte fixiert. Berufsbiografische Bezüge lassen Pilger:innen erkennen, die sich eine Auszeit nehmen, in einer Übergangsphase stecken oder einen Neustart wagen wollen (vgl. Kurrat 2018: 39 ff.). Die individuelle Biografie nennt auch Patrick Heiser als wichtigen Auslöser für eine Pilgerschaft (vgl. Heiser 2018: 82). Der Wunsch nach Wandel, bei sich oder auch in der Gesellschaft, stellt mitunter einen starken Antrieb für viele Pilger:innen dar (vgl. Frey 2002: 294), was als weiterer Hinweis auf die bedeutende Transformationskraft des Jakobswegs gewertet werden kann.
Pilgern als Bildungserfahrung
In der Bildungstheorie existieren vielfältige Formen des Lernens. Für Maren Heise ist das informelle Lernen gerade im beruflichen Kontext von Lehrenden relevant und zeitgemäß: „Um den Anforderungen einer Wissensgesellschaft zu begegnen, reichen […] traditionelle Formen der Fort- und Weiterbildung nicht mehr aus“ (Heise 2009: 17). Thomas Alkemeyer und Kristina Brümmer (vgl. 2016: 505) bringen exemplarisch den Zusammenhang von körperlicher Transformation mit den Wahrnehmungs- und Spürfähigkeiten in diversen Settings und Praktiken ins Spiel.
„Darüber hinaus ist aber das Gehen selbst bereits eine Bildungserfahrung, nämlich jenseits von allem gelehrten Input. Die Verlangsamung als solche, die Körpererfahrung und die Erfahrung von Raum und Zeit im Maß des Menschlichen scheint eine ganz wesentliche Erfahrung zu sein“.
Steinhäuser (2018: 223)
Losgelöst von der Route beschreibt Ekkehard Steinhäuser hier diverse Bildungsfaktoren durch das Pilgern. Wie Erfahrung das Lernen anregen und auslösen kann, verdeutlicht Heide von Felden, wenn sie konstatiert: „Erfahrung […] benennt die Einordnung und Verdichtung des Erlebnisses, die bewusste Wahrnehmung und ansatzweise Verarbeitung des Erlebten. […] Erfahrungen sind in Kontexte eingebettet. […] Geschichten aus diesen Kontexten oder Lernorten beinhalten eine Fülle von informellen Lernprozessen“ (Felden 2016: 759).
Literatur:
Alkemeyer, Thomas/Kristina Brümmer (2016): Körper und informelles Lernen, in: Marius Harring/Matthias D. Witte/Timo Burger (Hrsg.): Handbuch informelles Lernen. Interdisziplinäre und internationale Perspektiven, Weinheim und Basel: Beltz Juventa, S. 493–509.
Felden, Heide von (2016): Biografieforschung und informelles Lernen, in: Marius Harring/Matthias D. Witte/Timo Burger (Hrsg.): Handbuch informelles Lernen. Interdisziplinäre und internationale Perspektiven, Weinheim und Basel: Beltz Juventa, S. 753–766.
Frey, Nancy L. (2002): Santiagopilger unterwegs und danach. Auf den Spuren einer alten Route im heutigen Spanien, Volkach/Main: Manfred Zentgraf.
Gebauer, Gunter/Christoph Wulf (1998): Spiel – Ritual – Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Heise, Maren (2009): Informelles Lernen von Lehrkräften. Ein Angebots-Nutzungs-Ansatz, Münster: Waxmann.
Heiser, Patrick (2012): Lebenswelt Camino. Eine einführende Einordnung, in: Patrick Heiser/Christian Kurrat (Hrsg.): Pilgern gestern und heute. Soziologische Beiträge zur religiösen Praxis auf dem Jakobsweg, Berlin/Münster: LIT, S. 113–137.
Heiser, Patrick (2018): Religionssoziologie, Paderborn: utb.
Kerkeling, Hape (2009): Ich bin dann mal weg. Meine Reise auf dem Jakobsweg, 6. Aufl., München: Piper.
Kurrat, Christian (2015): Renaissance des Pilgertums. Zur biografischen Bedeutung des Pilgerns auf dem Jakobsweg. Berlin/Münster: LIT.
Kurrat, Christian (2018): Biografische Lern- und Reflexionsprozesse beim Pilgern auf dem Jakobsweg, in: Der pädagogische Blick (26), S. 34–45.
Lienau, Detlef (2009): Sich fremd gehen. Warum Menschen pilgern, Ostfildern: Grünewald.
Steinhäuser, Ekkehard (2018): Pilgern auf dem Lutherweg. Sind Reformation und Wallfahrten doch vereinbar?, in: Christian Antz/Sebastian Bartsch/Georg Hofmeister (Hrsg.): Ich bin dann mal auf dem Weg. Spirituelle, kirchliche und touristische Perspektiven des Pilgerns in Deutschland, Konstanz und München: UVK, S. 215–228.
Turner, Victor W./Edith Turner (1978): Image and pilgrimage in Christian culture, New York: Columbia University Press.
Turner, Victor W. (2009): Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt/Main: Campus.