Oktober 3, 2024

Rituale

Rituale leben von ihrer Wiederholung. Und hier ist bereits die zentrale Aussage enthalten: Es geht nach diesem Verständnis weniger um statische Dauerschleifen, sondern vielmehr um mit Leben gefüllte Rituale. Diese entfalten insbesondere in der Kindheit eine lern-, entwicklungs- und identitätsfördernde Wirkung. Häufig sind daran Symbole geknüpft. Immer wieder gehen Symbole verloren, die auf soziale Weise sinnstiftend waren.

„Das Verschwinden der Symbole verweist auf die zunehmende Atomisierung der Gesellschaft. Gleichzeitig wird die Gesellschaft narzisstisch. Der narzisstische Verinnerlichungsprozess entwickelt eine Formfeindlichkeit. Objektive Formen werden verworfen zugunsten subjektiver Zustände. Rituale entziehen sich der narzisstischen Innerlichkeit. Die Ich-Libido kann an sie nicht andocken. Wer sich ihnen hingibt, muss von sich selbst absehen. Rituale erzeugen eine Selbst-Distanz, eine Selbst-Transzendenz.“ (Han 2021: 15)

Die Fähigkeit zur Selbstdistanz gilt als konstitutives Element für Bildungsprozesse.

Funktion von Ritual und Spiel in sozialen Dramen

Rituale geben Orientierung, fördern den Zusammenhalt und sorgen für die Integration in eine Gemeinschaft (vgl. Lienau 2009: 106 f.). Auf eine vorgeschriebene Ordnung deutet der lateinische Begriff ritus etymologisch hin (vgl. Gebauer/Wulf 1998: 128). Victor Turner hat alltägliche Inszenierungen und Rollenspiele unter die ethnologische Lupe genommen und beschreibt Rituale als „vorgeschriebenes, förmliches Verhalten bei Anlässen“ (Turner 2009: 126). Dies muss jedoch nicht stereotypen, unreflektierten Ritualisierungen entsprechen. Daher verweist Turner zusätzlich auf das enorme Transformationspotential von lebendigen Ritualen: „In seinem performativen Fluß ist das Ritual nicht nur vielschichtig, sondern unter Bedingungen gesellschaftlichen Wandels auch auf allen seinen Ebenen zur kreativen Modifizierung fähig“ (ebd.: 131). Rituale können also aus alten Mustern neue Situationen evozieren sowie darüber hinaus soziale Realität abbilden und generieren (vgl. Gebauer/Wulf 1998: 128).

„Konstitutiv für die Rituale ist die symbolische Wahrnehmung. Das Symbol (griech. symbolon) bedeutet ursprünglich das Wiedererkennungszeichen zwischen Gastfreunden (tessera hospitalis). Der eine Gastfreund bricht ein Tontäfelchen durch, behält die eine Hälfte für sich und gibt dem anderen die andere Hälfte als Zeichen der Gastfreundschaft. […] Mit dem Symbol, mit der tessera hospitalis besiegeln die Gastfreunde ihr Bündnis. Das Wort symbolon ist im Bedeutungshorizont von Beziehung, Ganzheit und Heil angesiedelt. […] Rituale sind auch insofern eine symbolische Praxis, eine Praxis des symbállein, als sie Menschen zusammenführen und ein Bündnis, eine Ganzheit, eine Gemeinschaft hervorbringen.“ (Han 2021: 9 ff.)

Konkret beschreibt der Philosoph Byung-Chul Han eine Resonanzgemeinschaft.

„Ohne Resonanz ist man auf sich selbst zurückgeworfen und für sich isoliert. Der zunehmende Narzissmus wirkt der Resonanzerfahrung entgegen. Die Resonanz ist kein Echo des Selbst. Ihr wohnt die Dimension des Anderen inne. […] Die heutige Krise der Gemeinschaft ist eine Resonanzkrise. Die digitale Kommunikation besteht aus Echokammern, in denen man in erster Linie sich selbst sprechen hört. Likes, Friends und Follower bilden keinen Resonanzboden. Sie verstärken nur das Echo des Selbst.“ (ebd.: 19 f.)

Demnach ist Resonanz ein mutiger weil unplanbarer Gegenentwurf zur ängstlichen Isolation in der nur vermeintlich sicheren (digitalen) Blase.

Literatur:

Gebauer, G./C. Wulf (1998): Spiel – Ritual – Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt. Rowohlt.

Han, B.-C. (2021): Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart, 5. Aufl. Ullstein.

Lienau, D. (2009): Sich fremd gehen. Warum Menschen pilgern. Grünewald.

Turner, V. (2009): Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. Campus.

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