Wer würde heute freiwillig und uneingeschränkt auf ein digitales Leben verzichten? Für viele wäre das gleichbedeutend mit dem Leben „hinterm Mond“. Wen wundert beim Anblick wild tippender Mitmenschen auf ihren Smartphones, dass das Digitale vom Finger (lat. digitalis) abgeleitet wird. Die Ziffer ist auf das englische digit zurückzuführen.
„Die digitale Kultur beruht auf dem zählenden Finger. Geschichte ist aber Erzählung. Sie zählt nicht. Zählen ist eine posthistorische Kategorie. […] Auch die Timeline erzählt keine Lebensgeschichte, keine Biografie. Sie ist additiv und nicht narrativ. Der digitale Mensch fingert in dem Sinne, dass er ständig zählt und rechnet. […] Heute wird alles zählbar gemacht, um es in die Sprache der Leistung und Effizienz umwandeln zu können. So hört heute alles, was nicht zählbar ist, auf, zu sein.“
(Han, 2014, S. 50f.)
Der südkoreanisch-deutsche Kulturwissenschaftler und Philosoph Byung-Chul Han zeichnet hier ein kulturpessimistisches Bild. Beim letzten Satz bleibt offen, für wen genau diese Auslegung gelten soll. Und ist das Zählen tatsächlich ein posthistorisches Phänomen? Nichtsdestotrotz: Dass viele Menschen zu sorglos mit ihren Daten umgehen, ist täglich zu beobachten. Manipulation durch Big Data ist kein Schreckensszenario in ferner Zukunft, wie in Huxleys Dystopie „Schöne neue Welt“ (eine Anspielung auf die Aussage “O brave new world“ von Miranda im Shakespeare-Stück „Der Sturm“). Und in den 1980er Jahren gab es tatsächlich Bürger*innen, die aus Protest gegen die Volkszählung auf die Straße gegangen sind. Die älteren Leser*innen, die heute zusammen mit anderen Generationen freiwillig und großzügig ihre Daten preisgeben, werden sich vielleicht erinnern. Die anderen googeln’s einfach.
Literatur:
Han, B.-C. (2014). Im Schwarm. Ansichten des Digitalen (2. Aufl.). Matthes & Seitz.
Huxley, A. (2002). Schöne neue Welt (60. Aufl.). Fischer.
Shakespeare, W. (2004). Sämtliche Werke. Magnus.